Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Landesverband Baden-Württemberg e. V.

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Aktive Schulmobilität

Immer weniger Kinder legen ihren Weg zur Schule selbstaktiv zurück, also mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Dabei profitieren von selbstaktiver Schulmobilität nicht nur Kinder und Eltern, sondern die ganze Kommune.

Viele Schulen berichten von zunehmendem Verkehrschaos vor Unterrichtsbeginn. Doch warum verändert sich die Schulmobilität? Und welche Folgen hat das? Wie können Schulen und Kommunen die aktive Mobilität von Kindern und Jugendlichen stärken?

Aktive Mobilität meint eine physische Aktivität, um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen. Dies beinhaltet das zu Fuß gehen, Radfahren, aber auch Rollerfahren, Skaten und das Unterwegsein mit einem Rollator. Ein elektrischer Roller, bei dem keine physische Aktivität gefordert ist, fällt nicht darunter. Freizeitaktivitäten wie Spazierengehen oder Gassigehen mit dem Hund sind mit dem Begriff ebenfalls nicht gemeint, sondern es geht tatsächlich um den „Personen-Transport“ von A nach B.

In Deutschland ist die aktive Schulmobilität durch die Entwicklung der Automobilisierung stark zurückgegangen. Während in den 1970er Jahren nur 4,2% der Grundschulkinder mit dem Auto zur Schule gefahren wurden (Funk 2008), sind es heute rund ein Fünftel der Kinder (ADAC 2025). Dieser Trend hält aktuell trotz des Ausbaus von Fuß- und Radinfrastruktur sowie sinkender Unfallzahlen weiter an.

Kinder werden oft nicht als aktive und selbstständige Verkehrsteilnehmende betrachtet und gefördert, sondern als gefährdet angesehen. Viele Eltern sehen den Fahrdienst als Pflicht „guter“ Eltern. Zusätzlich führen Kitaplatz-Schwierigkeiten und eine flexible Schulwahl häufig zu komplizierten oder langen Wegen. In vielen Fällen wird nicht die Betreuungseinrichtung oder Schule gewählt, die am nächsten liegt, sondern die, welche die passenden Betreuungszeiten oder überhaupt einen Platz anbietet. Insgesamt steigt auch der Anteil an Kindern, die nicht Fahrradfahren können oder kein eigenes Fahrrad besitzen. Fehlende Kompetenzen der Eltern, geringe finanzielle Mittel oder auch Scham können dazu führen, dass zwar ein Auto mit Mühe finanziert wird, dann aber nichts mehr übrig ist für sonstige Fahrzeuge. Diese sollen dazu mit den Kindern „mitwachsen“, müssen repariert werden und benötigen weiteres Equipment wie Helme und Beleuchtung.

Probleme durch abnehmende aktive Mobilität

1. Körperliche Entwicklung

Nur ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland erreicht die Empfehlung der WHO von mindestens einer Stunde moderater Bewegung am Tag (Burchartz et al., 2021). Fehlende Bewegung führt zu einem erhöhten Risiko von Diabetes oder Herzkrankheiten. Im Gegensatz dazu verringert regelmäßige Bewegung die Gefahr von Fettleibigkeit und erhöht die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnumgebung zu orientieren und Teil einer örtlichen Gemeinschaft zu sein (Reimers et al. 2020). Vor allem die aktive Schulmobilität hilft Kindern dabei, überschüssige Energie abzubauen und mit Gleichaltrigen zu interagieren.

2. Soziale Entwicklung

Die aktive Schulmobilität fördert also nicht nur die körperliche Gesundheit von Kindern, sondern auch ihre soziale Entwicklung sowie ihre kognitiven Fähigkeiten. Probleme wie zunehmende Einsamkeit und hohe Durchfallquoten beim Führerschein stehen aus diesem Grund ebenfalls im Zusammenhang mit fehlender aktiver Mobilität von Kindern und Jugendlichen. Für das Kind selbst ist der Schulweg außerdem ein Freiraum, der es erlaubt, selbstständig zu handeln und Entscheidungen zu treffen. Während Eltern den Kaugummi-Kauf bei der Tankstelle, das Mitbringen eines verletzten Regenwurms oder den Klingelstreich mit Freund*innen als verzichtbares Übel ansehen, erlernen Kinder dabei wichtige Kompetenzen zur Selbstständigkeit: Umgang mit Geld, Entscheidungen treffen, Vertreten von bestimmten Werten, Verhalten in einer Gruppe und vieles mehr.

3. Kommunale Verkehrssicherheit

Aus verkehrsplanerischer Sicht ist der Rückgang aktiver Schulmobilität ein Teufelskreis: Wenn mehr Kinder mit dem Auto gebracht werden, wird die Verkehrssituation vor der Schule gefährlicher für alle. Wenn wenig Kinder in der Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind, fahren Menschen schneller und unvorsichtiger mit dem Auto. Dies verschärft gefährliche Situationen und führt zu einer höheren Verkehrsbelastung. Die meisten Unfälle auf dem Schulweg passieren mittlerweile mit dem Auto. Der Bring- und Holdienst ist somit nicht nur für andere, sondern auch für das eigene Kind gefährlich.

Wenn Kinder aktiv in die Schule gehen oder mit dem Rad fahren, ist die betreffende Stadt lebendig. Kinder lernen ihren Ort kennen und wissen, wo ihre Freund*innen wohnen und ihre Nachbar*innen. Sie beobachten ihre Umgebung genau und haben örtliches Wissen, was für die Kommune sehr wichtig ist. Nur mit der Perspektive von Kindern können Kommunen herausfinden, wo schwierige Stellen im Verkehr sind und wo Änderungsbedarf besteht. Wenn Wege für Kinder sicher sind, dann profitieren alle davon. Denn: Ein niedriger Bordstein hilft nicht nur beim Straße überqueren mit dem Roller, sondern auch mit dem Rollator. Außerdem können sich Kinder so selbstständig vor Ort bewegen, zum Sportverein gelangen oder ihre Freund*innen besuchen. Das entlastet die Verkehrssituation nicht nur vor der Schule, sondern im ganzen Ort.

Hintergrundwissen: Warum hat die aktive Schulmobilität abgenommen?

Oft fallen heute Sätze wie: „Wir haben früher ja noch auf der Straße gespielt, aber heute sitzen die Kinder ja nur noch vor dem Bildschirm!“ Suggeriert wird dabei, dass es die Schuld der Kinder sei, wenn sie den Straßenraum nicht nutzen. Fakt ist aber, dass Kinder auf den Straßen nicht gewollt sind und eher überfahren werden als dafür gelobt, dass sie auf der Straße anstatt vor dem Bildschirm sitzen. Und auch das Verteufeln von Elterntaxis führt am Problem vorbei, denn dahinter stehen komplexe gesellschaftliche Entwicklungen.

  • Unsere Verkehrsinfrastruktur ist nicht auf Kinder ausgerichtet

Die heutigen Mobilitätsstrukturen unserer Gesellschaft sind auf erwachsene und berufstätige Menschen ausgerichtet. Das war nicht immer so: Erst beim Wiederaufbau in den 1950er und 1960er Jahren wurden unsere Städte ‚autogerecht‘ geplant. In diesem Zuge wurden in vielen Städten Straßenbahnen zurückgebaut und öffentlicher Raum in Parkplätze umgewandelt, um dem Autoverkehr Platz zu machen. Stuttgart war vor dem zweiten Weltkrieg beispielsweise eine sehr fußgängerfreundliche Stadt. Doch die Automobilisierung war Motor des deutschen Wirtschaftswunders und wurde auch planerisch vorangetrieben. Die Automobilisierung war dabei ein Projekt von und für Männer: Diese fuhren täglich mit dem Auto zur Arbeit, während Frau und Kind die Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegten. Die Straßen wurden auch innerorts breiter, die Geschwindigkeit höher und aktive Mobilität wurde gefährlicher – was sich auch in der Unfallstatistik zeigt. Schlechte Luftqualität, Treibhausgasemissionen und Lärm waren weitere Probleme der starken Automobilisierung, die bis heute anhalten.

Trotz aktueller politischer Bestrebungen hin zu einer nachhaltigen Verkehrswende genießt das Auto weiterhin eine Vormachtstellung im Verkehr. Dies zeigt sich einerseits in der gebauten Infrastruktur, den Nahverkehrsangeboten und der Verteilung von Geldern und andererseits jeden Tag auf der Straße und in Alltagsgesprächen. Das Auto wird als „normales“ Verkehrsmittel gehandelt, das scheinbar allen Menschen zur Verfügung steht. Dass Kinder und Jugendliche im "System Automobilität" nicht oder nur passiv teilnehmen können, wird in der öffentlichen Debatte wenig besprochen. Dabei haben auch viele andere Menschen keinen Zugang zur Automobilität: 35% der Erwachsenen in Deutschland besitzen keine Fahrerlaubnis. Zudem besitzen ein Fünftel der Haushalte kein eigenes Auto, meistens aus finanziellen Gründen.

Das Auto ist also nicht die Grundvoraussetzung für Mobilität in Deutschland, sondern steht nur einer bestimmten Gruppe zur Verfügung. Für Kinder und Jugendliche ist der Straßenraum ein gefährlicher Ort, der aus diesem Grund nicht immer selbstaktiv genutzt werden darf. Viele Kinder sind Mitfahrende in immer größer werdenden Autos. Wenn sie dagegen in einem finanzschwachen Haushalt aufwachsen, leiden sie besonders unter der autozentrierten Welt. Diese Entwicklungen haben große Auswirkungen auf den täglichen Schulweg.

  • Menschen mit Betreuungsaufgaben haben komplexe Wege

Mehr Frauen sind berufstätig und haben öfters ein Auto zur Verfügung als noch vor 20 oder gar 50 Jahren. Mit dieser Veränderung geht jedoch kein Wandel der traditionellen Rollenbilder einher – es sind nicht die Väter, die jetzt höhere Betreuungsleistungen übernehmen, sondern Kindertagesstätten und Ganztagsschulen. Einfache Pendelwege werden auch nicht häufiger mit dem Nahverkehr zurückgelegt, damit die Betreuungsperson neben der Teilzeitarbeit noch Bringfahrten und Einkäufe erledigen kann, sondern der Trend geht zum Zweitauto. Viele Kinder in den „Elterntaxis“ sind heute unter drei Jahre alt und damit zu klein, um alleine in die Kita zu laufen. Für den gemeinsamen Fußweg ist jedoch vor der Arbeit keine Zeit. Oft hat der Kindergarten nebenan auch keinen Platz und der Weg führt ins nächste Stadtviertel über große Kreuzungen. Während in vielen Großstädten Fahrradanhänger oder Lastenräder für diese Zwecke als praktische Lösung erkannt werden, ist dies auf dem Land kaum der Fall. Verständlich, denn: Wer seine Arbeit nicht direkt vor Ort hat, keine gut ausgebaute Fahrradinfrastruktur und keine ordentlichen Abstellplätze vorfindet, nimmt das Auto.

Und so ist das tägliche Verkehrschaos vor Kindergärten und Schulen weder eine große Überraschung noch ein Fehlverhalten der Eltern. Es geht bei dieser Debatte vielmehr darum, wie Strukturen vereinfacht werden können und mit welchen Alternativen alle entlastet werden. Infrastrukturmaßnahmen müssen mit Beratungsangeboten für Eltern und gelebten Handlungsalternativen Hand in Hand gehen.

  • Veränderte Erziehungsparadigmas fördern Bringfahrten

Anstatt die Entwicklungspotenziale des Kindes durch aktive Mobilität und Selbstständigkeit im Straßenverkehr im Blick zu haben, wird der Schulweg im Auto priorisiert. Dies zu verteufeln nach dem Motto „früher war alles besser“ wäre jedoch der falsche Ansatz. Denn was steckt wirklich hinter der Zunahme von Elterntaxis?

Neben den gesellschaftlichen Veränderungen im Bereich Geschlechterrollen und Familie, haben sich auch Erziehungsstile verändert. Unter dem Begriff „Car-parenting“ greift eine Studie (Silonsaari et al. 2024) die Zusammenhänge von Erziehungsparadigmas und Schulmobilität auf. Durch Interviews mit den Eltern sowie Verkehrsexperimenten für die Kinder (wie zum Beispiel Fahrrad-Workshops) konnte herausgearbeitet werden, dass Eltern das Chauffieren der Kinder zu unterschiedlichen Terminen als ihre Pflicht sehen, um den Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Die Bringfahrten werden als soziale Investition in das Kind verstanden, das durch Vereinsaktivitäten wichtige Kompetenzen für das spätere Leben bekommt. In der Studie kam jedoch heraus, dass sich der Glaube an Mobilitätsdienste als wichtige Elternstrategie durch die verstärkte Nutzung von Fahrrädern (während eines Experiments) veränderte: Die Kinder sahen plötzlich neue Möglichkeiten, ihr Leben zu organisieren. Sie überlegten selbst, wohin sie selbstständig gehen könnten und gingen nach einem Termin beispielsweise nicht direkt nach Hause, sondern verabredeten sich mit Freund*innen. Eltern berichteten davon, wie Kinder anfingen selbstständig zu planen, wann sie das Haus verlassen müssen und was sie einpacken – Dinge, die die Eltern vorher als ihre Aufgabe verstanden und wo Kinder nun selbst Verantwortung übernahmen (vgl. Silonsaari et al. 2023).

Weniger Bringfahrten von Eltern sollten daher nicht als Vernachlässigung der Kinder verstanden werden, sondern als Anstiftung zur Selbstständigkeit. Für die Entwicklung der Kinder sind Freiräume mindestens genauso wichtig wie strukturierte Freizeitaktivitäten. Jungen Menschen ist später nicht geholfen, wenn sie ein Instrument spielen können, aber ihre Wege nicht selbstständig planen können. Wichtig ist dabei, die Kinder bei diesem Prozess zu begleiten, ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen und im Zweifel natürlich auch mal einzuspringen, wenn der Bus ausfällt.

Quellen:

Funk 2008: Mobilität von Kindern und Jugendlichen. Langfristige Trends der Änderung ihres Verkehrsverhaltens. Materialien aus dem Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 5 / 2008. Nürnberg: Institut für empirische Soziologie.

ADAC 2025: Jedes vierte Grundschulkind wird an mehr als der Hälfte aller Tage von den Eltern zur Schule gefahren, Pressemitteilung. URL: stiftung.adac.de/wp-content/uploads/2024/09/PM-ADAC-Stiftung-Schulstart-20240906.pdf

Burchartz, A., Oriwol, D., Kolb, S. et al. Comparison of self-reported & device-based, measured physical activity among children in Germany. BMC Public Health 21, 1081 (2021). https://doi.org/10.1186/s12889-021-11114-y

Reimers, Anne K., Eliane Engels, Isabel Marzi, Katrin Steinvoord, and Claus Krieger 2020: Aktiv zur Schule: Zur Bedeutung von aktiven Schulwegen bei Kindern im Grundschulalter in Deutschland. Prävention und Gesundheitsförderung 15(4): 311–318.

Jonne Silonsaari, Mikko Simula & Marco te Brömmelstroet 2024: From intensive car-parenting to enabling childhood velonomy? Explaining parents’ representations of children’s leisure mobilities, Mobilities, 19:1, 116-133, DOI: 10.1080/17450101.2023.2200146 

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