
Verkehrspolitischer Abend: Wirtschaftsfaktor Fahrrad
Ist Baden-Württemberg wirklich nur Autoland? Oder vielleicht doch auch Fahrradland?
Am 21. Oktober 2025 lud der ADFC zu einem politischen Abend zum Thema „Wirtschaftsfaktor Fahrrad“ ein und diskutierte die Wirtschaftspotenziale des Fahrrads.
Nach dem Autogipfel folgte nun der Fahrradgipfel in Baden-Württemberg: Mit etwa 100 Gästen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hat der ADFC Baden-Württemberg die wirtschaftlichen Potenziale des Radverkehrs für das Land diskutiert und dabei festgestellt, dass Baden-Württemberg das Zeug zum Fahrradland hat.
Schon die Grußworte von Gesundheitsminister Manne Lucha und Ministerialdirektor Berthold Frieß (Verkehrsministerium) machten deutlich, Radfahren ist viel häufiger Schlüssel zur Lösung unserer alltäglichen gesellschaftlichen Herausforderungen als man denkt. Bewegungsmangel und damit einhergehende Gesundheitskosten, Folgekosten des Klimawandels für Unternehmen und Gesellschaft und die Transformation des Industriestandorts Baden-Württemberg lassen sich mit dem Rad als Teil der Lösung viel einfacher bewältigen.
Matthias Zimmermann, ADFC-Landesvorsitzender:
Das Fahrrad ist eine Querschnittsaufgabe, die nur gemeinsam gemeistert werden kann. Daher ist vernetztes Denken und Handeln die Prämisse der Fahrradförderung der Zukunft, um die Potenziale des Fahrrads überall heben zu können.
Fahrrad als GameChanger, CashCow und Hidden Champion
Im ersten Tandem-Talk des Abends machten Vera Schapitz (AOK Baden-Württemberg) und Andreas Pesch (Bosch) deutlich, dass Bewegungsmangel jährlich Krankheitskosten in Höhe von 2 Mrd. Euro in Deutschland verursacht. Das Fahrrad kann der GameChanger für mehr Bewegung in allen Altersgruppen sein. Mit dem Rad zur Arbeit pendeln oder andere alltägliche Wege auf dem Rad erledigen, integriert Bewegung in den Alltag ohne zusätzlichen Zeitaufwand. Diese Bewegung hält nicht nur körperlich fit, sondern stärkt auch das Immunsystem und die mentale Gesundheit. Radfahren ist so ein Gewinn für das Gesundheitssystem, für Unternehmen und für die individuelle Gesundheit:
- Radfahren senkt die Krankheitskosten und entlastet das Gesundheitssystem
- Radfahren senkt die Krankheitskosten und Kosten für Parkplätze etc. für Unternehmen
- Radfahren stärkt die individuelle körperliche und mentale Gesundheit
Dr. Andrea Möller (dwif) und Ursula Teufel (Schwäbische Alb Tourismus) unterstrichen, dass Radtourismus kein Nischensegment des Tourismus ist, sondern ein Gewinn für die touristischen Unternehmen und die Staatskasse. In Baden-Württemberg werden jährlich ca. 2,2 Mrd. Euro Bruttoumsatz im Radtourismus erzeugt. Das sind 10% der gesamten touristischen Umsätze im Land. Auch für die Kommunen, das Land und den Bund zahlt sich der Radtourismus aus, denn die Steuereinnahmen aus Mehrwertsteuer, Einkommenssteuer, Gewerbesteuer, Grundsteuer und die sog. Bettensteuer belaufen sich auf über 200 Mio. Euro im Jahr. Und die Entwicklungspotenziale im Radtourismus sind riesig: Nur 1 von 10 potenziellen Radreisen wird aktuell tatsächlich unternommen.
- Radtourismus in Baden-Württemberg schafft eine jährliche Wertschöpfung in Milliardenhöhe
- Radtourismus füllt die Staatskassen mit Steuergeldern
- Radtourismus hat noch viel ungenutztes Potenzial
Im dritten Tandem-Talk des Abends sprachen Anke Schäffner (ZIV) und Hilke Patzwall (Vaude) über die Power der Fahrradindustrie im Südwesten Deutschlands, die weit mehr als nur die Herstellung von Rädern repräsentiert und auch die Bereich Radzubehör und -Services umfasst. Mit Bosch e-Bike Systems, Paul Lange, Jobrad, Pinion und Magura tragen einige große Unternehmen der Fahrradbranche zur Wertschöpfung des Landes bei und sichern Arbeitsplätze. Die Fahrradwirtschaft ist schon heute ein Wirtschaftsfaktor für Baden-Württemberg und die hohe Innovationskraft der Fahrradbranche verspricht weiteres Entwicklungspotenzial. Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum sind in der Fahrradbranche kein Widerspruch, sondern bedingen einander und tragen so zur Transformation des Industriestandorts Baden-Württemberg bei.
- Fahrradindustrie im Land trägt zur Wertschöpfung des Landes bei und sichert Industriearbeitsplätze
- Fahrradindustrie ist Innovationstreiber
- Fahrradindustrie vereint Nachhaltigkeit und Wirtschaftswachstum
Mehr Fahrrad wagen
Wie das Potenzial des Fahrrads als Wirtschaftsfaktor in Baden-Württemberg ausgeschöpft werden kann, diskutierten Sandra Prediger (Jobrad-Gründerin), Alexander Rosenthal (Zukunft Fahrrad), Günter Riemer (AGFK BW), Dr. Matthias Zimmermann und Kathleen Lumma (beide ADFC BW).
Für die Fahrradindustrie sind v.a. der Fachkräftemangel und die fehlende Planungssicherheit ein großes Hemmnis für die positive Entwicklung der Branche. In Baden-Württemberg existiert nur eine Ausbildungsstätte für Zweiradmechatroniker*innen und bei den Ingenieur-Studiengängen sieht es nicht besser aus. So können nicht ausreichend Fachkräfte in den Markt gelangen und die Transformation der Industrie vorantreiben. Auch das ständige Hin und Her in der Politik, die Entscheidungen trifft, um sie kurze Zeit später wieder zurückzunehmen, hemmt die strategische Weiterentwicklung und Innovationskraft der Fahrradbranche.
Der Radtourismus im Land ist durch eine Schieflage zwischen Wertschöpfung und Investitionen geprägt, denn den hohen Bruttoumsätzen und Steuereinnahmen stehen nur unzureichende Investitionen in den Radtourismus gegenüber. So werden die wichtigen Koordinierungsstellen für die Landesradfernwege aktuell ausschließlich zu Lasten der Kommunen betrieben, die aufgrund klammer Kassen nun beim Radtourismus streichen. Ergebnis dieser Kürzungen sind Radwege, die nicht mehr betreut, gepflegt und weiterentwickelt werden.
Die Kommunen, die größtenteils für die Schaffung guter Bedingungen für den Radverkehr zuständig sind, plagen sich ebenfalls mit Fachkräftemangel (v.a. in der Planung) und zusätzlich mit fehlendem politischen Mut und Bürokratie. Entscheidungen pro Fahrrad scheitern daran, dass sich Gemeinderäte nicht mehrheitlich für einen menschengerechten Ort und gegen einen autogerechten Ort entscheiden können und wollen. Der Standortfaktor Fahrrad wird nach wie vor kaum erkannt. Und ist die Entscheidung doch gefallen, dauert die Umsetzung viele Jahre aufgrund von überbordenden Planungsprozessen.
Für das Fahrradland Baden-Württemberg braucht es daher:
- eine Fachkräfteoffensive für die Fahrradbranche und Radverkehrsplanung
- eine klare politische Agenda pro Fahrrad
- eine Absicherung der Finanzierung der Radinfrastruktur als Basis und v.a. des Radtourismus
- eine Vereinfachung von Planungsprozessen
Besonders wichtig sind mutige Führungskräfte und PolitikerInnen, visionäre Ideen und Vorbilder, aber auch Flexibilität und Freiheiten bei der Umsetzung von Ideen sowie Zusammenarbeit und zivilgesellschaftliches Engagement.




































